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6.5  Die Ernährungsfrage

Der Rückweg geht ohne Probleme über die Bühne und sie gelangen wieder zu dem halb verfallenen Stall, wo sie am Morgen ihr Gepäck deponiert hatten. In derart schwierigem Gelände in den Bergen herumklettern macht hungrig, und angesichts ihrer spärlichen Nahrungsmittelvorräte überlegen sie sich, was sie bereits essen und was sie noch aufsparen sollen. Dieses Problem haben die Männer offensichtlich nicht, denn Jack kann sie beobachten, wie sie über einem Feuer ihr Essen zubereiten:

“Not far below me, near a tumble-down hut, were the two men, cooking something over a fire they had made.” 49

Auch wenn so ein Feuerchen in der Wildnis sehr romantisch erscheinen mag, ist dies in jedem Fall zu unterlassen. Innerhalb des Parco Nazionale Val Grande ist Feuer machen strengstens verboten und dies nicht von ungefähr. Man muss sich bewusst sein, dass auf der Alpensüdseite manchmal monatelang kein Regen fällt und der Boden oft knochentrocken ist. Ein einziger Funke kann da genügen, um einen Waldbrand auszulösen!

Die Autorin geht in ihrer Erzählung nicht auf die Frage ein, was ihnen die Natur an Essbarem zur Verfügung stellen würde, denn bald werden die vier Kinder Essensvorräte zur Genüge haben. Es lohnt sich dennoch, über diesen Sachverhalt kurz nachzudenken. Folgender neckischer Spruch von Philip an die Adresse von Dinah, kurz vor dem Einschlafen, wirft zumindest schon mal einen Blick auf die Tierwelt in dieser Gegend:

“Dinah, don’t yell if a spider runs over you, or a rat or a hedgehog. There are sure to be plenty out here.“ 50

Mi. 21. August

Nein, Tiere wie diese sollte man nicht essen. Dabei scheint aber gerade Dinah die brenzlige Situation, in der sie sich befinden, durchaus bewusst zu sein, weshalb sie selbst dies in Erwägung zieht, nachdem beim Frühstück die letzten Vorräte, die noch übrig waren, verzehrt worden sind:

“We’ll just have to do something about it—about the food question, I mean,“ said Dinah. “Even if it means eating your lizard, Philip. […]” 51

Feigenzweig

Abb. 26: Dank der geringen Höhenlage treiben die Feigenbäume (Ficus carica) im Valle di Nibbio bereits Anfang April neu aus. Die Früchte erscheinen oft zeitgleich mit den ersten Blättern.
Eigene Aufnahme vom 05.04.2023

Welche Tiere es nebst Eidechsen oder Spinnen sonst noch in den Wäldern der Alpensüdseite gibt, wird im Anhang A erläutert. Bezüglich Verpflegung sollte man sich aber besser an der Pflanzenwelt orientieren. Gerade im August gibt es da durchaus einiges zu holen. So sind in dieser Zeit die Brombeeren reif, von denen es jede Menge gibt – oft gerade dort, wo der Weg verläuft, wie später noch ersichtlich sein wird. Ebenfalls häufig vertreten ist die Echte Feige (Ficus carica), deren Früchte ab dem Sommer reif sind. Sie sind allerdings nur dann geniessbar, wenn sie wirklich vollreif sind, somit ist es auch ein wenig Glücksache, ob man welche findet oder nicht. Ihre Farbe ist dann meist nicht mehr grün, sondern eher blau bis violett. Unreif sind die Früchte hölzern und schmecken nicht. Die Edelkastanie (Castanea sativa) ist im Valle di Nibbio nicht so häufig anzutreffen wie sonst in den Wäldern der Alpensüdseite, sie kommt aber durchaus vor. Ihre Früchte sind in vielen Ländern bestens bekannt, sei es als «heisse Mar(r)oni» z.B. in Österreich oder der Schweiz, oder verarbeitet als Mehl z.B. in der Schweiz oder in Italien. Weniger bekannt ist, dass sie problemlos auch roh genossen werden können. Dazu müssen sie geschält werden, wobei auch die dünne, direkt auf der Frucht aufliegende Haut entfernt werden muss, was ein wenig knifflig ist. Die Mühe lohnt sich aber, denn im Gegensatz zu sonstigen Früchten und Beeren haben Kastanien einen sehr hohen Nährwert, sodass man ohne weiteres davon satt werden kann, was alleine mit Beeren ziemlich schwierig ist. Sie reifen allerdings erst im Herbst, d.h. im August befinden sich die Früchte noch in ihrem stacheligen, grün gefärbten Fruchtbecher (Cupola) am Baum. Sind sie reif, fallen sie von selbst auf den Boden und die nun braune Hülle öffnet sich und gibt die Früchte frei. Jede Cupola enthält normalerweise 2 – 3 Kastanien. Diese brauchen dann bloss noch eingesammelt zu werden. Man hüte sich aber vor den Stacheln, welche äusserst hart und spitz sind!

Edelkastanie

Abb. 27: Noch nicht reife Früchte der Edelkastanie (Castanea sativa) an einem Baum am Aquädukt bei der Ponte Casletto im unteren Val Grande.
Eigene Aufnahme vom 19.09.2003

Edelkastanie

Abb. 28: Mit reifen Kastanien übersäter Weg bei Carona (CH).
Eigene Aufnahme vom 03.10.2019

Zu guter Letzt sei noch empfohlen, von der recht häufig vorkommenden Amerikanischen Kermesbeere (Phytolacca americana) besser die Finger zu lassen. Deren Blätter werden zwar in den Vereinigten Staaten, wo die Pflanze ihre ursprüngliche Heimat hat, als ein Nahrungsmittel verwendet, welches «Poke Salet» genannt wird (abgeleitet vom Wort «pakon» der amerikanischen Ureinwohner). Dazu sind aber Blätter der jungen Pflanze zu verwenden und diese müssen unbedingt gekocht werden (wie Spinat) 52. Die Beeren könnten grundsätzlich ebenfalls verzehrt werden, wenn sie etwa ab August vollreif sind. Ihre Farbe wechselt dann von grün zu dunkelviolett, aber sie sind wenig schmackhaft. Wichtig ist auf jeden Fall, die Kerne auszuspucken, da sie, wie die gesamte Pflanze, verschiedene Giftstoffe enthalten.

Wie gesagt; Dinah, Lucy-Ann, Jack und Philip brauchen sich darob nicht den Kopf zu zerbrechen, denn nachdem sich die Männer im Laufe des Morgens auf den Weg in die Berge hinauf gemacht haben, können sie sich in aller Ruhe bei der Hütte umsehen, wo diese gestern Abend beim Feuer gesessen haben. Und die Hütte ist voller Konservendosen, und sogar die Eingangstüre ist offen (was sie aber nur durch Zufall entdecken)! Das ist typisch für eine Enid Blyton-Erzählung; hungernde Kinder waren ihr allzeit abhold, weshalb immer für eine Gelegenheit gesorgt wird, reichlich Esswaren zu beschaffen. Sehr häufig handelt es sich dabei um Konservendosen, sei es bei den Fünf Freunden 53, oder eben hier im «Tal der Abenteuer».

Im 8. Kapitel wird schliesslich noch beschrieben, wie die Kinder ihr Gepäck im Geäst eines Rosskastanienbaums verstecken und wie sie sich schliesslich selbst vor den Männern dort in Sicherheit bringen. Die Rosskastanie (Aesculus hippocastanum) werden wir im Valle di Nibbio jedoch nicht antreffen. Obwohl die (ungeniessbaren) Früchte mit ihrer stacheligen Hülle jenen der Edelkastanie ähneln, sind die beiden Arten nicht miteinander verwandt. Die Rosskastanie ist in Europa nicht heimisch, aber oft angepflanzt in Siedlungen und Parks zu finden. Auch Enid Blyton hatte sich wohl solch einen Baum vorgestellt, denn er befand sich ja unweit eines ehemaligen Bauernhauses. Ihre Essensvorräte – nun ihr wichtigstes Gut – verstecken die Kinder hingegen, der einfacheren Erreichbarkeit wegen, in einem dichten Gebüsch. Wie schön, endlich wieder nach Herzenslust futtern zu können:

“Now for a meal—the finest we’ve ever had because we’ve never been so hungry before.” [said Jack] 54

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