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6.4  Hinauf zum Wasserfall

Di. 20. August

Noch völlig perplex nach dem eben Vorgefallenen, müssen sich die vier Kinder zu Beginn des ersten Tages im fremden Tal rasch mit der ungewohnten Situation arrangieren. Hauptsache, schnell weg von den unheimlichen Männern und nichts zurücklassen, was auf ihre Anwesenheit schliessen lässt. Aber wohin sollen sie gehen?

“We’ll take this path here—if it is a path.” [said Jack]
The little procession wound round some big rocks, and came to where a stream burbled down the hillside. It gushed out there as a spring, and became a little stream almost at once. “We could drink from that,” said Philip. “I’m thirsty […]”
The water was cold and crystal clear. It was delicious. All the children felt better for a drink. Dinah dipped her hanky into the stream and wiped her face. She felt much fresher then, and Lucy-Ann did the same.
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Rio Nibbio

Abb. 16: Der Rio Nibbio – ein kristallklarer Bergbach.
Eigene Aufnahme vom 02.06.2011

Valle di Nibbio

Abb. 17: Viele Steine und dichtes Gebüsch – das Valle di Nibbio.
Eigene Aufnahme vom 13.07.2017

So kann auch für uns der Anfang lauten. Wenn wir beim kleinen Klettergarten den Einstieg gefunden haben, erkennen wir tatsächlich eine Art Pfad, der je nach Vegetation mehr oder weniger ausgeprägt ist. Grosse Felsblöcke liegen überall im Talgrund verstreut, zwischen denen der beste Durchgang zu finden ist. Bald wird so der Bach erreicht, der allerdings meist kein Wasser führt, da ein Grossteil unterirdisch abfliesst. Hat es jedoch in den vorherigen Tagen geregnet, tritt das Wasser an einigen Stellen unvermittelt zwischen den Steinen als Quelle ans Tageslicht und damit lässt sich dann ohne weiteres der Durst stillen. Dies ist in der Tat erfrischend, gerade im Sommer, wenn es auf dieser Höhe (das Tal beginnt auf lediglich 220 m) und zwischen den Felswänden oft sehr heiss ist. Davon wird etwas später noch die Rede sein.

“Let’s go straight on,” said Dinah. “Up the hill here. If we keep up a little we shall be able to see the plane down in the valley and keep our sense of direction a bit. Keep among those trees.”
“That’s a good idea,” said Philip, and they made their way slowly towards the trees. They felt safer among them. The men could not spot them there.
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So ist es: Bewegen wir uns zwischen den Bäumen und Büschen am Rande des Talbodens, kann uns wirklich niemand erkennen, so dicht ist der Bewuchs dort. Und was die Richtung anbelangt, hat Dinah schon alles gesagt: immer geradeaus, das heisst in unserem Falle, mehr oder weniger nordwärts. Nach der ersten Traverse des Baches bewegen wir uns für eine Weile östlich davon, wo ein den steilen Felwänden vorgelagerter Hügel zu erklimmen ist, ehe es abermals zum Bachbett hinunter geht, wo wir nunmehr bei einem grossen Feigenbaum auf die westliche Seite wechseln.

Im Buch treffen die Kinder in der Folge auf ausgebrannte Häuserruinen, Reste landwirtschaftlicher Bauten. Solche werden uns hier allerdings nicht begegnen, denn besiedelt war dieses Tal im unteren Teil vermutlich nie. Hingegen gab es weiter oben und in den Steilhängen durchaus einzelne bescheidene Hütten, zu denen die Bauern im Sommer mit ihren Tieren hinaufzogen. Nahrungsmittelknappheit zwang sie dazu, auch die entlegensten Winkel aufzusuchen, um die Tiere weiden zu lassen und Wildheu zu ernten. Mit «Almromantik» hatte dies freilich nichts zu tun, vielmehr war es ein ausserordentlich hartes und entbehrungsreiches Leben. Während die Männer oftmals weiterhin im Tal oder sogar in der Ferne einer Arbeit nachgingen, mussten die Frauen und Kinder nicht nur die Ziegen oder Kühe melken und Käse herstellen, sondern stundenlang barfuss in den Stilhängen umherklettern, den Tragekorb am Rücken, um mit der Sichel das spärliche Gras zwischen den Felsbändern abzuschneiden. 40

Tresilian: Ruinen

Abb. 18: Zwischen den Häuserruinen.
Zeichnung von Stuart Tresilian, entnommen von https://www.enidblytonsociety.co.uk/book-details.php?id=166&title=#illustrations

Alpe Sostenna

Abb. 19: Einstiger Hauseingang auf der Alpe Sostenna (892 m).
Eigene Aufnahme vom 18.05.2007

Beispiele für solch entlegene Alpsiedlungen finden sich auch im Gebiet des Valle di Nibbio, wenngleich nur wenige. Folgende sind in den gängigen Quellen beschrieben: Das Alpetto, die als einzige in den Karten der Gegend verzeichnet ist und sich im steilen Nordhang des verborgenen Seitentals Val Cornera befindet (anspruchsvoll durch das Tal und über das Bergsturzgelände zu erreichen, ca. 3 – 4 Std. T5). Noch entlegener ist I Casali (eine gute Stunde hinter Alpetto, allerdings sorgen die völlig zerfallenen Kunstbauten für grosse Schwierigkeiten; T6-). Unten im Talgrund, ungefähr dort, wo der Felssturz niedergegangen ist, lag einst die Alpe Faera (auch Faiera oder Fajera), von der ebenfalls noch Reste vorhanden sein sollen (von Nibbio durch das Tal ca. 3 Std. T5 oder über den Sasso Grande ca. 3 – 4 Std. T5+). Auf dem westlich begrenzenden Grat finden sich schliesslich nördlich des Sasso Grande die Reste der Alpe Sostenna (je nach Vegetation unterschiedlich schwierig ab Cuzzago oder Nibbio, jeweils gut 2 Std. T4+) sowie weitere Ruinen auf dem Mot Gianin, die zu erreichen sind, wenn man dem recht breiten Höhenrücken noch ein Stück weiter bergwärts folgt.

Alpe Albane

Abb. 20: Die kompakte Siedlung Alpe Albanè (im lokalen Dialekt Elbenè, 429 m), einst ein kleines Dörfchen, liegt etwas abseits des alten Talwegs in den Hängen des unteren Val Grande, zwischen Cossogno und der Ponte Casletto.
Eigene Aufnahme vom 22.08.2003

Die Tatsache, dass auch in der IGM-Karte aus den 1930er Jahren diese Örtlichkeiten völlig fehlen, bzw. im Falle des Alpetto bereits als Ruine eingetragen sind, zeigen, dass sie vermutlich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegeben wurden. Entsprechend sind heute nur noch bescheidene Mauerreste davon übrig, von der Vegetation längst überwuchert.

Möchte man sich hingegen grössere und noch besser erhaltene Siedlungen anschauen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen wurden, wird man im eigentlichen Val Grande fündig, also dem Haupttal, welches der ganzen Region den Namen gegeben hat. Dort lassen sich vor allem im unteren Teil des Tales verschiedene solcher Ruinendörfer besuchen, oft sogar auf vergleichsweise guten Wegen (T2 – T3 / E). Selber erkundet habe ich beispielsweise Alpe Albanè, Montuzzo oder Uccigiola. Topographische Karten zeigen darüber hinaus eine Reihe weiterer.

Zurück im Valle di Nibbio richtet sich das Hauptaugenmerk aber nicht auf bescheidene Gebäudereste, sondern vielmehr auf die unerhört imposante Gebirgswelt ringsum. Den vier Kindern im Tal der Abenteuer geht es nicht anders:

“Aren’t those mountains enormous?” [said Philip]
“Yes. They make a ring all round this valley,” said Lucy-Ann. “I wonder where the way out is. Mountains always have passes through them, don’t they?”
“Yes,” said Jack. “But I shouldn't care to go looking for one if I didn’t know the way. See that mountain over there? It’s got a white tip. I bet that’s snow. It shows how high it must be.”
It certainly was a beautiful valley, and the mountains that guarded it were magnificent. But it had a deserted lonely air about it, and even the few birds that flew by every now and again seemed silent and cautious.
“There’s something mysterious here,” said Jack. “You know—I believe—yes, I really do believe—we’re in for another adventure.”
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Eine sehr aufschlussreiche Passage: Die umliegenden Berge sind in der Tat gewaltig, wenn auch nicht hoch genug, um ganzjährig schneebedeckt zu sein. Aber sie schliessen das Tal ringsum ein und der Pass, über den das Tal verlassen werden kann, liegt weit oben, unsichtbar hinter einer Biegung. Auch die Kinder werden erst viel später nach entbehrungsreichen Wanderungen den Übergang erreichen. Vorerst gelangen sie auf einer ersten Entdeckungstour immer weiter in die Berge hinauf und stellen fest, dass die höher steigende Sonne die Felsschucht, durch die sie bergan steigen, in einen heissen Kessel verwandelt:

They made their way to the gully, which was a regular sun-trap. There had obviously been a way up there at some time or other. The children followed it, climbing higher. They came to a ledge that ran rather dangerously round part of the mountainside. Jack went first.
It wasn’t as dangerous as it looked. “I think it’s all right,” he called. “It’s wider than it appears. Come on. I’m sure it leads to somewhere.”
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Die Wegspuren leiten uns bald wieder in die Mitte der Schlucht zwischen die Steine, die bei entsprechendem Sonnenstand vor sich hin glühen. Der weiterführende Weg steigt gegenüber den bewaldeten Hang hinauf, jedenfalls das, was von ihm noch übrig ist. Einst muss diese Verbindung recht komfortabel gewesen sein, denn sie ist auf den Luftbildern des Bundesamts für Landestopografie swisstopo von 1956 gut zu erkennen. 43 Leider ist seither fast alles abgerutscht, weshalb von einem Sims, der breiter ist, als es scheint, wie Jack sich ausdrückt, nicht die Rede sein kann. Einzig eine steinerne Treppe hat sich bislang in Teilen dem Verfall widersetzt.

Luftbild 1956

Abb. 21: Der Talweg im Aufstieg nach Prà d’la val im Jahre 1956.
Ausschnitt aus dem swisstopo Luftbild 19560960022974

Talweg, Treppe

Abb. 22: Die letzte übrig gebliebene Treppe des alten Talweges.
Eigene Aufnahme vom 10.11.2015

Die Kinder legen sich nach diesem anstrengenden Aufstieg an die Sonne, um ein bisschen zu schlafen. Das können wir auch tun, denn es folgt bald ein vergleichsweise flaches Stück mit lichtem, sonnendurchflutetem Wald. Es ist jene Stelle, die Paolo Crosa Lenz als «Prà d’la val» bezeichnet und als unordentlicher, von Brombeersträuchern überwucherter Wald, in dem einst ein paar Grashalme standen, charakterisiert. 44

Zum Schlafen kommen sie jedoch nicht, denn Lucy-Ann hört in der Ferne etwas rauschen, was wie Wasser klingt:

“You know—I think I can hear water somewhere,” said Lucy-Ann as she lay flat on her back, the sun shining on her freckled face. “Not very near. Listen, all of you.”
They listened. Certainly they could hear something that was not the wind blowing round. What could it be? It didn’t sound like the gurgling of a spring.
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Prà d'la val

Abb. 23: Sonnenstrahlen durchdringen den Wald von Prà d’la val.
Eigene Aufnahme vom 13.07.2017

Ja, auch in Prà d’la val lässt sich in der Ferne ein Rauschen vernehmen, und dies verursacht nicht der Bach am Fusse dieses kleinen Plateaus, denn der Abfluss erfolgt auch in diesem Bereich unterirdisch. Machen wir uns also auf den Weg!

“We’ll go and see,” said Jack. […]
They climbed higher, and came to a rocky, stony part which was steep and hard to climb. But the noise was now much louder.
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Am nördlichen Ende sind einige Felsstufen zu überklettern, ehe es steil und steinig vom Plateau ins Bachbett hinuntergeht.

They climbed a little higher and then the path led abruptly round a crag of rock. It widened out a little the other side, and all four children stood gazing in awe at what was making the noise they had heard. It was a waterfall—but what a big one! It fell from a great height, almost sheerly down the mountainside, and cascaded far below them, fine spray rising high in the air. It wetted their faces as they stood there, and yet they were quite a good way from the mass of water. 47

Wenig später ist tatsächlich zur Rechten ein wundervoller Wasserfall zu bestaunen, der aus dem hoch gelegenen und von hier vollkommen unerreichbaren Seitental Val Cornera über eine Felswand ins Haupttal hinunterstürzt. Die Wassermenge ist allerdings oft nicht sehr gross, sodass wir – im Gegensatz zu den Kindern – relativ nahe heranmüssen, um zu spüren, wie die Gischt unser Gesicht befeuchtet. Während sie aber den Fuss des Wasserfalls nicht erreichen können und sich daher an einer Pfütze auf einem Felsblock bedienen müssen, um den Durst zu stillen, können wir unsere Trinkflasche falls nötig wieder direkt im Bach auffüllen.

Wasserfall Cornera

Abb. 24: Wasserfall aus dem Val Cornera.
Eigene Aufnahme vom 13.07.2017

Kartenausschnitt Wasserfall

Abb. 25: Ausschnitt Prà d’la val / Wasserfall aus der eigenen Karte 1:5500 des unteren Valle di Nibbio (V3.1 von 2024)

Nach dieser herrlichen Entdeckung wird es für die Kinder Zeit, dorthin zurückzukehren, wo sie einstweilen ihre Koffer mit den Kleidern, Decken und dem wenigen Proviant gelagert haben. Aber es fällt ihnen schwer, diesen wundervollen Ort zu verlassen:

“It’s a magnificent sight!” said Dinah, gazing at the roaring waterfall. “I could watch it all day.”
“We’ll come again tomorrow,” said Jack.
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Auch für uns wird es nun Zeit, weiter zu gehen, neuen Entdeckungen entgegen. Vom Taleingang bis zum Fuss des Wasserfalls auf ca. 400 m Höhe ist ungefähr eine Stunde zu veranschlagen. Zunächst lohnt es sich aber, noch einen Blick auf eine wichtige Angelegenheit zu werfen:

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