6 Der Weg durch das Tal anhand der Erzählung
6.1 Einleitung
Um es gleich vorwegzunehmen: Bis zu dieser Balm bin ich nie gekommen und dafür gibt es Gründe: Zum einen ist dieses Tal seit rund einem Jahrhundert verlassen und die wenigen Wege, die einst vorhanden waren, sind mehr oder weniger zerfallen und wurden von der Vegetation zurück erobert. Das Vorankommen gestaltet sich entsprechend mühsam, ist äusserst zeitraubend und mit Gefahren verbunden. Zum andern wurde das Tal ungefähr in seiner Mitte am 19. April 2005 durch einen Bergsturz verschüttet, von dem später noch die Rede sein wird. Das dadurch aufgetürmte Gestein ist aber stabil (die Luftbilder des Istituto Geografica Militare zeigen zwischen 2006 und 2012 keine nennenswerten Veränderungen) 35, dennoch bedeutet es, dass dieser Trümmerhaufen überstiegen werden muss, wünscht man zur Balm zu gelangen. Aus der im vorigen Kapitel erwähnten Schilderung von Raffaella Scattaretica lässt sich erahnen, wie schwierig und risikoreich dies ist.
Alternativ gibt es für erfahrene Alpinwanderer(!) die Möglichkeit, entweder vom Sasso Grande dem Hang entlang durch sehr steiles Gelände zu traversieren, bis der Talgrund erreicht ist, oder vom nördlich gelegenen Mot Gianin direkt zur Balm abzusteigen. Deweitern ist es möglich, die Balm vom Pass, der Bocchetta di Valfredda, zu erreichen. Dies bedingt allerdings, dass man erstmal zu diesem Pass gelangt, was anforderungsreich genug ist, denn nördlich davon erstreckt sich die Kernzone des Val Grande, eine Gegend, die völlig weglos, steil und von Gebüsch und Wald überwuchert ist. Im Rahmen dieses Berichtes kann daher nur mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass das Erreichen der «Balm d’la Vègia» auf jeden Fall mit zahlreichen Schwierigkeiten einhergeht und grosse Erfahrung mit solchem Gelände vonnögen ist!
Den unteren Teil des Tales bis zum Bergsturzgelände kenne ich jedoch gut. Diese verborgene und doch der Zivilisation so nahe gelegene, eigene Welt ist für mich im Laufe der Jahre zu einer perfekten Oase der Ruhe und Stille im hektischen Alltag geworden, in die ich immer wieder gerne zurückkehre. Dafür, dass dies so bleibt, sorgt Mutter Natur. Unmittelbar hinter den letzten Häusern des Dörfchens Nibbio ist der Talgrund überwachsen mit der üppigsten Pflanzenwelt, die man sich denken kann. Beidseitig ragen die Gebirgswände hunderte Meter in den Himmel und bereits nach wenigen Schritten scheint die Zivilisation weit weg zu sein, wenngleich sie akustisch natürlich noch lange hörbar bleibt, insbesondere die Züge auf der stark befahrenen Simplonstrecke. Störend ist das jedoch in keiner Weise!
6.2 Der Weg zum Tal
Machen wir uns also auf den Weg, das Tal für einmal mit den Augen von Dinah, Lucy-Ann, Jack und Philip zu sehen und vergessen dabei, dass sie mit einem Flugzeug dort gelandet sind. Das ist im engen Valle di Nibbio natürlich vollkommen unmöglich!
Unsere Anreise erfolgt stattdessen mit der Bahn. In Cuzzago halten die Regionalzüge der TreNord (Domodossola – Milano) und der Trenitalia (Domodossola – Novara), die über den Tag verteilt mehrmals, aber unregelmässig verkehren. Jede Linie hat ihren eigenen Bahnhof, was man sich besonders bei der Rückreise in Erinnerung rufen sollte. Bis zum Beginn des Tales folgen wir der schnurgeraden Hauptstrasse talabwärts, d.h. in östlicher Richtung. Bei der blauen Ortstafel «Mergozzo» (damit ist die Gemeinde gemeint, nicht der Ort; dieser liegt noch einige Kilometer weiter talabwärts) biegen wir links in einen Feldweg ein, der einer Mauer folgt, die das Gelände der «Bovere Graniti» begrenzt. Auf einer Betonbrücke queren wir bald den zumeist unterirdisch abfliessenden Rio Nibbio. Wer den Watschel entlang der Hauptstrasse nicht schätzt, kann in Cuzzago auch ins Dorf hinaufsteigen (Wegweiser «Linea Cadorna» beachten), den Rio dei Mulini queren und danach der alten Militärstrasse abwärts folgen. Wenn der Talboden wieder erreicht ist, biegt linkerhand ein Pfad ins Gebüsch ab, der das Gelände der «Bovere Graniti» nordwärts umgeht und später in den Pfad mündet, der von der Hauptstrasse her kommt. Diese auf der OpenStreetMap als «Cuzzago – Nibbio senza utilizzare la strada» gekennzeichnete Verbindung verlangt etwas Spürsinn und ist in der dichten Vegetation nicht immer gut aufzufinden.

Abb. 14: Hier beginnt die Tour. Val Grande-Wanderern und -Entdeckern ist der schiefe Turm am Bahnhof von Cuzzago wohlbekannt. Den Hintergrund bildet der felsige Gipfel des Pizz d’la Vugia (IGM: P. Voggia, 1611 m).
Eigene Aufnahme vom 10.11.2015

Abb. 15: Unterwegs zum Taleingang. Der gewaltig aufragende Bergrücken der Piana del Türi (1132 m) beherrscht die Szenerie.
Eigene Aufnahme vom 12.12.2018
Durch die Ebene zu Füssen der Berge gilt es nun, dem Verlauf des Rio Nibbio zu folgen. Das ist je nach Dichte der Vegetation mehr oder weniger umständlich. Wichtig zu wissen ist, dass in dieser Gegend die Wildnis oft direkt hinter den Siedlungen beginnt und entsprechend alles von einem dichten Dschungel überwuchert ist. Wenn man sich dem Fuss des Abhanges nähert und es dem Bach entlang nicht mehr weitergeht, weicht man linkerhand in den Wald aus, wo der Weg unvermittelt steil ansteigt bis zu einer Verzweigung. Hier muss nun rechts wieder abgestiegen werden, bis wir unter uns erneut das Bachbett sehen können. Gleich darauf wird zur Linken eine Kletterwand sichtbar und der Weg ins Valle di Nibbio biegt zu deren Füssen rechts ab und führt ins Dickicht hinein. Vom Bahnhof bis hierhin wird je nach Marschtempo eine Dreiviertel bis eine volle Stunde benötigt.
6.3 Warnung und Sicherheitshinweise
Da es im Gebiet des Val Grande immer wieder zu Unfällen kommt, sei hier ausdrücklich auf die Risiken hingewiesen, mit denen der Aufenthalt in dieser Gegend verbunden ist. Die Gelände- und Wegbeschaffenheit zum Schluss des zuvor geschilderten Anmarschwegs bildet ein kleiner Vorgeschmack auf das, worauf man sich einlässt. Absolute Trittsicherheit ist ein Muss und selbstverständlich sind gute Bergschuhe unerlässlich. Dringend empfohlen sind desweitern lange Hosen, schon nur zum Schutz vor dorniger Vegetation, aber auch um die Gefahr zu reduzieren, von Zecken gebissen zu werden. Der Schutz lässt sich durch die Verwendung eines Insektenschutzmittels noch weiter verbessern, wobei über das entsprechende Produkt jeder selbst bestimmen möge. Der weitere Verlauf das Tal hinauf, wie in den folgenden Kapiteln beschrieben, ist definitiv keine «normale» Wanderung mehr, sondern eine alpine Unternehmung im Schwierigkeitsgrad T4 – T5 36 (bzw. in der italienischen Skala EE 37). Speziell ist zu beachten, dass der Mobiltelefonempfang in der Wildnis oft nicht möglich ist und das Wetter vor allem im Sommer rasch umschlagen kann. Auf letzteres Thema wird im Kapitel 6.10 noch weiter eingegangen.
Obwohl dieser Bericht mit grösster Sorgfalt erstellt wurde, weist der Autor ausdrücklich darauf hin, dass sich die Verhältnisse im Gebirge jederzeit ändern können und jede Begehung dieser Route auf eigene Verantwortung erfolgt. Jegliche Haftung ist daher ausgeschlossen.