Vorheriger Teil

5  Die Höhlenbewohner

Als schwächster Punkt der Erzählung wird oft das alte Paar genannt, welches alleine auf sich gestellt, in den Höhlen lebt. 27 Wie lange sie schon dort ausharren, erfahren wir nicht, aber man kann davon ausgehen, dass es einige Jahre waren. Jack erwähnt ihnen gegenüber, dass «der Krieg längst zu Ende» sei, was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Auch erfahren wir, dass sie einst mit sechs Hühnern und einem Schwein in die Höhlen gezogen waren und davon inzwischen nur noch die Henne Martha am Leben ist. Aber sie haben grosse Lebensmittelvorräte eingelagert, um nicht zu verhungern. 28

Ein altes Ehepaar, das jahrelang allein in Höhlen in einem unbewohnten Tal lebt – es fällt schwer, sich so etwas vorzustellen, und doch hat es das schon gegeben. In den nachfolgend beschriebenen Geschehnissen sind die Rahmenbedingungen andere, dennoch finden sich Parallelen. Es ist keine schöne, romantische Geschichte – aber sie ist wahr:

Balm auf OSM

Abb. 13: Die Lage der «Balm d’la Vègia» in der OpenStreetMap. Alle abgebildeten «Wege» existieren in Wirklichkeit nur noch in Form von Bruchstücken. Ihre Begehung setzt grosse Erfahrung mit dieser Art Gelände voraus!
Eigener Screenshot von https://www.openstreetmap.org vom 26.12.2023

Es ist schon über hundert Jahre her, ausgangs des 19. Jahrhunderts: Die junge Angela Borghini aus Anzola d’Ossola und der Waldarbeiter Michele lernten sich kennen und verliebten sich ineinander. Allerdings war Michele bereits verheiratet und hatte einen Sohn, und im ländlichen, katholischen Norditalien wurde eine solche aussereheliche Beziehung unter keinen Umständen geduldet. Die beiden entschlossen sich daher, die Zivilisation für immer zu verlassen und lebten fortan unter einer «Balm», weit hinten im unbewohnten Valle di Nibbio. Alles, was sie dorthin mitnahmen, war eine Herde Ziegen und einige Hühner. Der Vizebürgermeister (vermutlich jener von Anzola) erzählte dem Reporter des «Corriere della Sera» 29 später, dass erst nach Jahren der Sohn von Michele sich entschlossen hat, den Weg auf sich zu nehmen, um seinen Vater wieder zu sehen oder ihn vielleicht zu überreden, zurückzukommen. Leider hat er sein Ziel nie erreicht und ist im steilen Gelände zu Tode gestürzt. Für die Talbewohner war dieser Verlust eine Warnung, sich von diesem Tale fernzuhalten und entsprechend ist über das weitere Schicksal der beiden kaum etwas bekannt. Dass sie Kinder gehabt haben sollen, welche im rauhen Klima aber nicht lange überlebten, wurde erzählt, ist aber nicht bestätigt. Sicher ist jedoch, dass Michele starb und Angela in der Folge ins Dorf kam, mit der Bitte, dass jemand den Leichnam heruntertrage. 30 Sie aber begab sie sich wieder in ihr Exil und lebte noch einige Jahre mutterseelenallein, ehe sie um 1931 ebenfalls verstarb. 31 Aus dieser Zeit stammt eine der seltenen Fotografien, welche sie vor ihrer Höhle zeigt. Sie ist dem Alpinisten Isolo Rasi aus Omegna zu verdanken, der auf seinem Weg zum Pizzo del Lesino im Jahre 1927 an der «Balma» vorbeigekommen ist. 32

Die Wohnstätte von Angela und Michele ist seit diesen Tagen als «Balm d’la Vègia» (Balm der Alten) bekannt. Es handelt sich also nicht um eine Höhle, sondern bloss um eine überhängende Felswand, die an ihrem Fusse ausgehöhlt ist. Die Autorin Raffaella Scattaretica beschreibt sie als «horizontales Dach; ein Unterschlupf für Tiere, die Zuflucht suchen, unter dem man nicht einmal aufstehen kann.» 33 Auch der Schriftsteller und Alpinist Paolo Crosa Lenz aus Ornavasso hat den Weg zur Balm auf sich genommen und beschreibt in seiner Erzählung La Fuga d’Amore della bella Angela wie diese entlegene Wohnstätte aussieht. Da die Balm gegen das Tal hin offen ist, haben die beiden Bewohner damals als bescheidenen Schutz gegen Wind und Wetter eine Mauer aus den überall herumliegenden Steinen aufgeschichtet, unterbrochen von einem einfachen Holzgatter, welches den Eingang bildete. Nicht weit davon gibt es weitere, kleinere Balmen, ebenfalls begrenzt mit Steinmauern, welche einst als Ställe für die Ziegen und Hühner dienten. Ebenfalls noch auszumachen, wenn auch heute vom Wald überwuchert, sind kleine Hangterrassen, auf denen vermutlich Kartoffeln angepflanzt wurden. 34

Nächster Teil