Vorheriger Teil

6.6  Die Höhle

Cloud9 Adv

Abb. 29: Lucy-Ann (Jennyfer Jewell) schlafend in einem provisorischen Nachtlager in der freien Natur; realistisch umgesetzt für die neuseeländische Verfilmung.
Ausschnitt aus The Ship of Adventure (NZ 1995)

Nachdem das Problem mit der Nahrungsmittelversorgung gelöst ist, tritt ein anderes wieder stärker in den Vordergrund, nämlich jenes, wo sie ihr Lager aufschlagen sollen. Der halb abgebrannte Kuhstall, wo sie sich zunächst niedergelassen haben, wird bereits am zweiten Tag von den Männern entdeckt und ihre Spuren dazu. Es ist also unbedingt notwendig, ein sicheres Versteck zu finden. Vermutlich wissen sie aber zu Beginn gar nicht genau, welche Art Unterschlupf sie eigentlich suchen, was wenig verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wie überraschend und unerwartet sie mit dieser für sie völlig fremdartigen Umgebung konfrontiert wurden. Sie glauben jedoch am Abend des zweiten Tages, beim Wasserfall einen guten Platz finden zu können:

“Do you remember the waterfall?” asked Philip. “There seemed to be a nice lot of rocks and hiding-places down towards the foot. I believe we could climb down there and find quite a good place.”
“Yes, let’s,” said Lucy-Ann. “I’d like to see that waterfall again.”
55

Vorerst sind sie jedoch gezwungen, mit einem provisorischen Nachtlager Vorlieb zu nehmen. Dies findet sich hinter einem dichten Gebüsch, weiter oben im Abhang, welches ihnen einen bescheidenen Schutz bieten sollte; zum einen davor, entdeckt zu werden, aber auch – begrenzt – vor dem kühlen Wind, der während der Nacht durch das Tal streicht. Wirklich gemütlich ist das natürlich nicht, vor allem nicht für Dinah:

Suddenly she gave a scream, making the others jump. “Oh! Oh! There’s something running over me! It must be a rat!” “Well, it isn’t,” came Philip’s delighted voice. “It’s Lizzie! She’s found me. Good old Lizzie!”
So it was. How the little lizard had discovered where Philip was nobody could imagine. It was part of the spell that Philip always seemed to exercise on wild creatures.
56

Do. 22. August

Ansonsten geht die Nacht ruhig über die Bühne, aber Philip treibt die anderen zeitig aus den Federn, weil niemand wissen kann, wann sich die Männer wieder wieder daran machen werden, die Umgebung abzusuchen. Tatsächlich steigt von deren Lager schon früh eine Rauchsäule auf, was bedeutet, dass sie auch schon wach und beim Frühstück sind. Eile ist also angesagt. Nach einem kurzen Imbiss, und nachdem sie die Säcke mit den Konservendosen im dichten Gebüsch versteckt haben und das niedergetretene Gras wieder etwas aufgerichtet, machen sie sich auf den bereits bekannten, weiten Weg zum Wasserfall, den sie in den nächsten Tagen noch etliche Male zurücklegen werden. Beim Wasserall angelangt, versuchen sie in dem unübersichtlichen Gelände einen geeigneten Platz zu finden. Dies erweist sich leider als ziemlich aussichtsloses Unterfangen, denn es gibt zwar reichlich Felsblöcke, hinter denen sie sich gut verstecken könnten und die auch einen bescheidenen Wetterschutz böten, jedoch ist durch die permanente Gischt alles patschenass und das Getöse des Wasserfalls würde eine Bleibe ebenfalls zur Qual machen.

Zurück im Valle di Nibbio beim Wasserfall von Val Cornera stellt sich diese Problematik nicht, denn die Wassermenge ist wie erwähnt eher bescheiden und trockene Ecken gibt es genügend. Für ein allfälliges Biwak ist die Lage dennoch äusserst ungünstig, denn es findet sich kaum ein ebenes Fleckchen. Zudem ist direkt zu Füssen der Steilwand immer mit Steinschlag zu rechnen. Jack hat wohl die Aussichtslosigkeit des Unterfangens auch eingesehen und beginnt damit, den Abhang etwas weiter vom Wasserfall entfernt, emporzusteigen.

He came to where a giant fern grew. It hung down like a great green curtain and was lovely to see. Jack wondered whether they could hide behind it.
He pushed aside the hanging green fronds and gave a shout at once. […]
“Golly!” said Jack to himself. “There’s a cave behind this hanging fern […].”
57

Ob sich hier in der Nähe des Wassefalls auch so eine hinter Farnwedeln versteckte Höhle befindet? Möglich wäre es – Felswände gibt es in grosser Zahl und sie sind insgesamt ziemlich dicht bewachsen. Vom Talgrund aus ist nicht erkennbar, was sich hinter den Büschen und Sträuchern alles verbirgt. Bis jetzt habe ich aber keine gefunden. Dafür wurde ich etwas weiter talaufwärts und abseits des einstigen Weges fündig. Und wie bei Jack erfolgte die Entdeckung rein zufällig: Am 10. November 2015 war ich bereits auf dem Rückweg, als ich in der das Tal westlich begrenzenden Felswand durch das Gebüsch hindurch eine Höhle erspähte. Leider war die Zeit damals schon zu weit fortgeschritten, um sie noch zu erforschen. Ohnehin hatte ich das Gefühl, sie sei durch die Lage mitten in der Felswand wohl unerreichbar. Jedoch wollte ich die Sache auf jeden Fall noch genauer untersuchen, was aber erst fast genau ein Jahr später gelang; am 12. November 2016.

Talweg

Abb. 30: Das ist der Weg! Rückblick durch den Dschungel von ca. 450 m Höhe das Tal hinunter in die Ebene.
Eigene Aufnahme vom 13.07.2017

Begeben wir uns also auf den Weg dorthin. Nach dem Wasserfall verlieren sich die Reste des alten Talweges endgültig inmitten von Steinen und Vegetation. Wenn wir jedoch auf die gelegentlich platzierten Steinmänner achten, finden wir den richtigen Verlauf durchaus. Und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm, denn auf dem schmalen Talgrund kann man sich nicht verlaufen. In Kapitel 6.9 wird noch ausgiebig auf weitere Details dieses Abschnittes eingegangen, daher soll für den Moment die Information genügen, dass wir uns erst an die westliche (in Aufstiegsrichtung linke) Talbegrenzung halten sollten. Bald haben wir dabei die markante, hoch aufragende Felsnadel «Ul Frà» vor Augen. An einer bestimmten Stelle, wo sich einem im Talgrund unüberwindbare Blöcke in den Weg stellen, führt dann ein schwach ausgeprägter und stark von der Vegetation bedrängter Pfad mitten ins Dickicht hinauf. Die Amerikanische Kermesbeere (Phytolacca americana) ist hier häufig verteten, auch wilde Feigenbäume (Ficus carica) sind in grosser Zahl auszumachen. Allgegenwärtig ist ferner der anspruchslose Schmetterlingsflieder, auch Sommerflieder genannt (Buddleja davidii). Mühsamer sind die zahlreichen Brombeersträucher (Rubus fruticosus) mit ihren dornigen Ranken, die teils eindrückliche Dimensionen erreichen und vor allem an einer nicht umgehbaren Felsstufe ein grösseres Problem darstellen. Eine Gartenschere wirkt hier wahre Wunder, ein Taschenmesser tut’s zur Not jedoch auch. Sehr steil sind so ungefähr 40 – 50 Höhenmeter zu überwinden, worauf das Gelände wieder «ebener» wird und es schliesslich erneut zum Bach hinuntergeht, wo wir uns auf ca. 465 m Höhe befinden. Einst floss das Wasser hier durch einen ausgeprägten Graben ab, der aber durch den Bergsturz vom 19. April 2005, der in einem späteren Kapitel behandelt wird, zugeschüttet wurde. Dadurch ist der Talboden an dieser Stelle verhältnismässig flach. Nun gilt es, dem Bachbett entlang talabwärts nach der jenseitigen Talflanke hinüberzuspähen, wo sich die Höhle befindet.

Im Gegensatz zu jener im Buch beschriebenen ist sie zwar nicht von herabhängenden Farnwedeln verdeckt, dennoch mitunter nicht ohne weiteres erkennbar. Wenn tagsüber die Sonne den Talgrund ausleuchtet, kann sie je nach Sonnenstand im grellen Gegenlicht nur schwierig auszumachen sein. Um sie zu erreichen, bin ich beim ersten Mal geschätzte 20 Höhenmeter über die Blöcke des Bachbetts bergab gekraxelt, bis ich mich direkt unter dem Loch befunden habe. Dort stiess ich auf ein im 45°-Winkel aus dem Bachbett ragendes verrostetes Metallrohr, welches mit Drahtseilen am Fels befestigt ist. Alter und Zweck? Unbekannt. Wenig nördlich davon liess sich eine schmale Rinne ausmachen, durch die ich mich in die Höhe hangeln konnte. Auf einem kleinen Sims wächst dort ein Edelkastanienbaum (Castanea sativa) und ungefähr in südwestlicher Richtung erstreckt sich von dieser Stelle aus ein Felsgrat, auf dem ich direkt zum Höhleneingang gelangte.

Am 13. Juli 2017 habe ich entdeckt, dass der Kastanienbaum auch (und einfacher) erreicht werden kann, indem man sich bei der Bachquerung durch Birken und Schmetterlingsflieder wühlt, bis an den Fuss der Felswand. Auf einem schmalen Sims folgt man dieser talabwärts, bis zu besagtem Kastanienbaum. Die umständliche Kraxelei durch die Blöcke kann man sich so ersparen.

Höhle in der Wand

Abb. 31: Die Höhle inmitten der Felswand, gesehen von der Querung des Bachbetts.
Eigene Aufnahme vom 10.11.2015

Zoom zur Höhle

Abb. 32: Zoom zum Höhleneingang.
Eigene Aufnahme vom 13.07.2017

Es ist wirklich ein erhabener Moment, einen solchen Ort zu entdecken. Wieviel bedeutender ergeht es da erst Jack und seinen Freunden, für die es in der momentanen Situation geradezu überlebenswichtig ist, einen sicheren und trockenen Platz zur Verfügung zu haben!

“This is just—exactly—the place for us,” said Jack, delighted. “Absolutely marvellous! Nobody could possibly see us here because the fern hangs down over the entrance, and it was only quite by accident I found it. It would be a most exciting place for us.” 58

Höhle von innen

Abb. 33: Die Höhle von innen. Kein Farnvorhang, jedoch schmücken einige Farnwedel den Eingang.
Eigene Aufnahme vom 05.04.2023

Kartenausschnitt Höhle

Abb. 34: Ausschnitt mit der Höhle aus der eigenen Karte 1:5500 des unteren Valle di Nibbio (V3.1 von 2024)

Enid Blyton schafft es stets, für ihre Protagonisten ein gemütliches Zuhause zu schaffen und die Höhle in diesem Buch ist ein perfektes Beispiel dafür. Der Boden ist mit Moos bewachsen und dadurch schön weich, zudem verläuft der Wand entlang eine Art Sims – ideal zur Lagerung der Vorräte. Im übrigen ist die Höhle sogar hoch genug, dass sie aufrecht stehen können und bietet ihnen genügend Platz, um zu Viert darin zu schlafen.

Da geht es im Valle di Nibbio etwas rustikaler zu und her: Zu Viert passt man dort kaum hinein und der Boden ist steinig, wenn auch relativ eben und trocken ist es auch. Hereingewehtes Laub sorgt im Eingangsbereich sogar für einen halbwegs weichen Untergrund und auch eine Farnstaude fehlt nicht. Sims, um Vorräte zu lagern gibt es natürlich keinen, aber der Ausblick vom Eingang ist ebenso schön, wie im Buch beschrieben, nur lässt sich der Wasserfall leider von hier aus nicht sehen. Hingegen ist das Rauschen des Baches zu vernehmen, der oberhalb der Stelle, wo der Weg ins Bachbett mündet, permanent oberirdisch über die Felsblöcke fliesst.

There was really a wonderful view outside—first of all, the cascading waterfall, with rainbows caught in it here and there; then beyond it the steep mountainside, and far beyond that, lower down, the green valley which stretched to the foot of steep mountains on the opposite side, towering up one behind the other. 59

Die Urheberschaft wird sich wohl nicht mehr klären lassen, jedoch scheint Klarheit darüber zu herrschen, dass diese Höhle künstlichen Ursprungs ist. Der Administrator von in-valgrande.it geht davon aus, dass es sich um einen Teststollen handelt, der dem Zwecke diente, herauszufinden, ob es Mineralien gäbe, die zu fördern sich lohne. 60 Details sind mir nicht bekannt, jedoch scheint den verfügbaren Informationen zufolge die Gegend mineralogisch von Interesse zu sein. Erwähnt wurden im Valle di Nibbio, teilweise bereits im 19. Jahrhundert, Vorkommen von Graphit, Titanit, Zirkonium und weiteren Elementen. 61 Kleine Bergwerke gab es ausserdem hinter Nibbio («Turrio») sowie in den Südhängen des Sasso Grande («Freva») 62

Demgegenüber dürfte die Höhle, die sich Enid Blyton ausgedacht hat, natürlichen Ursprungs sein. Zumal es nicht «nur» eine Höhle ist, wie Lucy-Ann am Nachmittag dieses dritten Tages herausfindet. Nachdem Kiki plötzlich spurlos verschwunden ist, entdeckt sie im hinteren Bereich der Höhle eine Öffnung, welche schliesslich in einen Tunnel mündet, den Wasser geschaffen zu haben scheint:

“Why—there’s a hole there!” said Lucy-Ann in surprise. “That’s where Kiki must have gone!”
She clambered up to the hole, which was about shoulder-high. It was just big enough for her to squeeze through. She expected to drop down into another cave the other side, but she didn’t. The hole went upwards slightly, a round, narrow tunnel. […] It was almost as round as a pipe. Maybe water has forced its way through at one time, but now it was quite dry.
63

Zusammen mit Dinah erkundet sie anschliessend diesen Tunnel und sie finden auch tatsächlich ihren Kakadu. Aber sie entdecken noch weitaus mehr: Immer weiter gelangen sie in den Berg hinein und teilweise ist der Gang so niedrig, dass sie kriechen müssen. Dass dies alles in völliger Dunkelheit vor sich geht, nur vom Lichtstrahl ihrer Taschenlampen erhellt, versteht sich von selbst. Aber schliesslich bemerkten sie eindringendes Tageslicht und ein unerwarteter Anblick erwartet die beiden Mädchen:

“Lucy-Ann! We’ve come out on to a flat ledge just behind the waterfall!” cried Dinah in astonishment. “Look, there’s the great mass of falling water just in front of us!—oh, the colours in it! Can you hear me? The water is making such a noise.”
Overwhelmed by surprise and by the noise, Lucy-Ann stood and stared. The water made a great rushing curtain between them and the open air. It poured down, shining and exultant, never stopping. The power behind it awed the two girls. They felt small and feeble when they watched that great volume of water pouring down in a few feet in front of them.
64

Wasserfall im Zoom

Abb. 35: Zoom von der Seite zum Val Cornera-Wasserfall.
Eigene Aufnahme vom 13.07.2017

Dieses Schauspiel zu bewundern, ist uns hier im Valle di Nibbio leider nicht vergönnt. Zum einen, weil die Höhle, wie erwähnt, künstlichen Ursprungs ist und nur wenige Meter in den Berg hineinführt. Auch wenn man noch so gut sucht, findet sich im hinteren Teil keine Öffnung, die in einen Gang hineinführt. Zum anderen befindet sich unsere Höhle ja nicht in der Nähe des Wasserfalls und dort habe ich bisher keine gefunden. Auch fällt die Felswand dort relativ gleichmässig und glatt ab, sodass es nicht möglich ist, sich hinter den Wasserfall zu begeben und den Anblick zu erleben, den Lucy-Ann und Dinah geniessen konnten. Nebenstehende Aufnahme bildet lediglich einen Versuch, den Vorhang aus fliessendem Wasser, von dem in der Erzählung die Rede ist, sichtbar zu machen. Dazu habe ich den Wasserfall von der Seite mit dem 300 mm-Teleobjektiv aufgenommen.

Nächster Teil