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6.8  Der Bergsturz

Sa. 24. August

Ein weiteres, wesentliches Landschaftselement solch wilder Gebirgstäler lernen die Kinder am nächsten Tag kennen. Inzwischen haben sie sich ganz gut in ihrem neuen Daheim eingerichtet. So meint Dinah zu Beginn des fünften Tages:

“Really, I’m beginning to feel I’ve made this cave my home half my life. It’s extraordinary how soon we get used to anything new.” 69

Jenseits der Höhle wartet jedoch noch jede Menge Unbekanntes darauf, erkundet zu werden. Jack und Philip wollen an diesem Tag den Männern folgen, die auf der Suche nach dem Schatz sind. Dazu folgen sie ihnen mit grossen Sicherheitsabstand bergwärts und gelangen in einen Bereich, der ziemlich unübersichtlich zu sein scheint, sodass sie sich entschliessen, Markierungen anzubringen, um den Rückweg wieder zu finden:

“Do we need to mark the way we’re going?” asked Philip. “Or shall we be able to find the way back, do you think?”
“Better mark things when we can,” said Jack. “You never know. Mark rocks with white chalk. Here’s a bit. And trees we will notch.”
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Bergsturz unten

Abb. 37: Unteres Ende des Bergsturzgeländes mit zugeschüttetem Graben. Der kleine Tümpel auf der Oberseite eines riesigen Brockens überdauert auch trockene Zeiten.
Eigene Aufnahme vom 05.04.2023

Wir können uns im Gegensatz dazu diese Arbeit sparen, zumal hin und wieder Steinmänner platziert sind. Aber auch so ist es relativ offensichtlich, welche Richtung einzuschlagen ist. Nach der Querung des Bachbetts, von der im letzten Kapitel die Rede war, passieren wir einen riesigen Felsbrocken, auf dessen Oberseite sich ein kleiner Tümpel befindet. Für mich überraschend überdauert er scheinbar auch monatelange Trockenphasen wie jene im Winter/Frühjahr 2022/2023 problemlos. Dahinter gilt es nun, einen sehr steilen Abhang, der mit losem Geröll bedeckt ist, zu erklimmen. Dies ist eine äusserst rutschige und mühselige Angelegenheit. Auch Jack und Philip haben mit dieser Schwierigkeit zu kämpfen:

Soon they came to a very steep place, difficult to keep their footing on, because the surface was so loose that they slid down continually. 71

Sie gelangen jedoch bald in einfacheres Gelände, wo sie sich mit wild wachsenden Himbeeren stärken können und auch eine Quelle wird erwähnt. Eine solche gibt es bei uns nicht und Himbeeren sind mir bislang auch keine begegnet, dafür sind Brombeersträucher, wie bereits erwähnt, recht verbreitet. Im Birkenwäldchen, das in der Folge zu queren ist, kommen wir problemlos voran, aber dies Vergnügen ist nur von kurzer Dauer, denn:

Now the boys came to a very desolate part of the mountainside. Big boulders had rolled down. Trees had been torn in half. Great ruts had been torn out of the earth and rock, and although the grass was growing everywhere to hide the scars, it was clear that some catastrophe had happened here. 72

Über die Katastrophe wurde in Kapitel 6.1 bereits berichtet: Sie ereignete sich am Dienstag, dem 19. April 2005, als sich nach längeren Regenfällen rund 1 Million Kubikmeter Gestein im mittleren Valle die Nibbio lösten und das Tal zu einem beträchtlichen Teil auffüllten. Aufgrund der Unzugänglichkeit des Geländes war das Ausmass zunächst unklar und erste Schätzungen gingen von rund 500’000 Kubikmeter Felsmaterial aus. Erst im Laufe des Jahres wurde das ganze Ausmass ersichtlich und die Schuttmenge erwies sich als doppelt so gross. Da das Tal aber unbewohnt ist und die Felsmassen einen guten Kilometer oberhalb des Ortes Nibbio zum Stillstand kamen, waren weder Menschenleben, noch Schäden an Einrichtungen zu beklagen. Auch das Wasser des Baches floss stets problemlos ab, wohl primär dank der Tatsache, dass der Rio Nibbio ohnehin meist unterirdisch fliesst und die Felsmassen daher kein Hindernis bildeten. 73

vor dem Bergsturz

Abb. 38: Vor dem Bergsturz: Blick talaufwärts, etwas oberhalb der Einmündung des Rio Cornera.
Eigene Aufnahme vom 26.02.2005

nach dem Bergsturz

Abb. 39: Ansicht von ungefähr derselben Stelle nach dem Bergsturz. Das aufgefüllte Tal im Hintergrund ist deutlich sichtbar.
Eigene Aufnahme vom 14.12.2005

Es ist davon auszugehen, dass der Felssturz im «Tal der Abenteuer» von deutlich bescheidenerem Umfange war. Aber der Schaden ist dennoch angerichtet, jedenfalls für die Männer, denn es sieht ganz danach aus, als sei der Eingang zur Schatzhöhle durch die Felstrümmer verschüttet worden. Jack und Philip können sie – gut versteckt in einem Busch – belauschen und werden Zeugen, dass einer der beiden in Zorn gerät und versucht, Felsblöcke mit blossen Händen wegzuräumen. Eine hoffnungslose Aufgabe, derer er sich aber vorerst nicht gewahr wird, sondern erstmal seine Kumpane und den Gefangenen auffordert, ihm dabei zu helfen. Von ihrer Warte, etwas weiter oben, wird den beiden Jungs die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens hingegen schlagartig bewusst:

“Why,” whispered Jack to Philip, “hundreds of stones must have fallen there! They’ll never, never be able to shift them like that!” 74

Tresilian: Männer im Felssturz

Abb. 40: Die Männer im Felssturzgelände.
Zeichnung von Stuart Tresilian, entnommen von https://www.enidblytonsociety.co.uk/book-details.php?id=166&title=#illustrations

Bergsturzgelaende

Abb. 41: Trümmerhalde des Bergsturzes vom 19. April 2005.
Eigene Aufnahme vom 14.12.2005

Wenn man nun mit eigenen Augen die Trümmerhalde eines solchen Natureignisses erblickt, wird einem augenblicklich bewusst, dass es vollkommen zwecklos ist, hier mit reiner Muskelkraft irgend etwas bewegen zu wollen. Mehr noch, auch schweres Gerät wäre hiermit hoffnungslos überfordert, denn die Blöcke sind teilweise riesengross. So schrieb die Tageszeitung «La Stampa» in ihrer Berichterstattung: «Ci sono massi grandi come case» (da sind Blöcke so gross wie Häuser). 75 Die ineinander verkeilten Brocken sind aber stabil und längst hat die Vegetation begonnen, die Steinwüste wieder zu besiedeln. Weit verbreitet ist der Schmetterlingsflieder, auch Sommerflieder genannt (Buddleja davidii), der aus China stammt und dem wir weiter unten auch schon begegnet sind. Da er anspruchslos ist und gut auf steinigem Boden gedeiht, kann er sich hier ungehindert ausbreiten, zumal die Konkurrenz durch andere Arten sehr gering ist. 76

Nachstehend noch zwei Vergleichsaufnahmen, entstanden auf dem unteren Gipfel des Sasso Grande (Pt. 818). Der tief eingeschnittenen Pass im Hintergrund des Tales, die Bocchetta di Valfredda, wird im nächsten Kapitel thematisiert werden.

vor dem Bergsturz

Abb. 42: Auslick vom Sasso Grande, Pt. 818 vor dem Bergsturz. Der obere Teil des Valle di Nibbio wird vom 1990 m hohen Pizzo del Lesino beherrscht.
Eigene Aufnahme vom 10.07.2004

nach dem Bergsturz

Abb. 43: Ansicht von ungefähr derselben Stelle nach dem Bergsturz. Das helle, ein Jahr zuvor freigelegte Felsmaterial kontrastiert deutlich mit der ansonsten eher dunklen Farbe des Gesteins.
Eigene Aufnahme vom 04.08.2006

Zum Schluss noch ein Wort zur Terminologie, aber aufmerksamen Lesenden wird es bereits aufgefallen sein: Kleinere Ereignisse (mindestens 100 Kubikmeter Material) werden als Felssturz, grössere – ab einem Volumen von einer Million Kubikmeter – als Bergsturz bezeichnet. 77

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