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6.9  Kartenskizze und der Weg zum Pass

Nach den Erlebnissen im Felssturzgelände ist der fünfte Tag aber noch längst nicht zu Ende. Im 16. Kapitel wird die spannende Geschichte erzählt, wie Lucy-Ann und Dinah die Männer ablenken, damit Jack und Philip unbemerkt aus der Höhle entweichen und erneut zum Lagerplatz der Männer zurückgehen können. Dort gelingt es Jack, den Gefangenen zu befreien. Er heisst Otto Engler, ist Österreicher und kann sich mehr schlecht als recht in Englisch verständigen. Dennoch erfährt Jack viele Neuigkeiten, insbesondere dass sehr wohl ein Schatz in diesen Bergen versteckt ist, aber an einem ganz anderen Ort als er den Männern glauben gemacht hat. Um selber dorthin zu gelangen, ist er aber viel zu schwach und krank. Ein Freund von ihm solle dies tun; er heisst Julius Müller, und Jack solle zu ihm gehen und ihm den Plan zum Schatz übergeben, den er ihm nun zeichnen werde. Damit Jack den Weg aus dem Tal finden kann, der über den «Windy Pass» führt, zeichnet er noch einen zweiten Plan. Jack verfolgt mit grösstem Interesse, wie die Skizze in Ottos Notizbuch allmählich Gestalt annimmt:

The waterfall appeared in the map. So did a queer-shaped rock. A bent tree came into the map, and a spring of water. Little arrows were drawn showing in what direction to go. It was really exciting. 78

Auf die einzelnen Details der Kartenskizze wird im nächsten Kapitel noch genauer eingegangen. Ein Beispiel soll zur Illustration vorerst genügen:

“See this queer-shaped rock—it’s shaped like a man in a cloak, with a ball-like head. If we saw that rock, we’d know, it was a signpost to the treasure.” [said Jack] 79

Diese Beschreibung zeigt in wenigen Worten, worauf es ankommt, wenn man sich in einem Gelände zurechtfinden soll, das keine Wege mehr aufweist. Markante Landschaftselemente dienen als Wegpunkte, an denen man sich orientieren muss, um den richtigen Durchgang zu finden. Wie im Kapitel «Karten» bereits dargelegt wurde, sind die offiziellen Karten, die das Gebiet des Valle di Nibbio abbilden, nicht sehr detailliert und der alte Talweg fehlt völlig. Es lohnt sich also, wenn man gedenkt, mehrmals in dieses Tal zurück zu kommen, selber Notizen und Skizzen anzufertigen, um sich beim nächsten Mal rascher zurechtfinden zu können. Andernfalls geht viel Zeit verloren, wenn man jedes Mal wieder neu suchen muss. Es sei denn, man hat ein sehr gutes Gedächtnis – so wie Otto – dann kann man sich diese Mühe natürlich sparen!

Planskizze

Abb. 44: Planskizze des Abschnittes nach dem Wasserfall von Val Cornera.
Eigene Skizze vom 14.12.2005

Wie nebenstehende Skizze zeigt, habe ich bei meiner zweiten Tour fleissig skizziert, um den unübersichtlichen Teil zwischen dem Wasserfall und dem Bergsturzgelände abzubilden. Und einige Elemente, die Otto verwendete, tauchen hier auch auf: Da ist der Wasserfall am Rio Cornera, mit einem Pfeil markiert, ein offenbar markanter «Baum» (nicht mehr ersichtlich, welcher gemeint ist), oder auch den «gr. Block», im Bereich der Stelle, wo der Talgrund gequert werden muss (vermutlich ist der mit dem Tümpel gemeint). Die «hohe Felsstufe» liegt im zumeist stark bewachsenen Abhang, der in Kapitel 6.6 beschrieben wurde, und ist nicht umgehbar. Die Route habe ich strichliert gezeichnet, so wie Pfade in den meisten Karten auch abgebildet sind, verwendete aber auch Pfeile, so wie das Otto getan hat. Bei mir dienten sie aber nur dazu, markante Wegpunkte näher zu beschreiben. Die Höhenangaben basieren auf barometrischer Höhenmessung. Mittlerweile habe ich sie um ca. 40 Höhenmeter nach unten korrigiert, so liegt die Stelle der damaligen Messstation auf ca. 470 m. Mangels verlässlicher Höhendaten dieser Gegend bleibt dies aber weiterhin mit einer gewissen Unsicherheit behaftet.

Diese Messstation, die «Stazione di Monitoraggio», ist das einzige künstliches Element in diesem Plan. Solche mit Solarenergie betriebene Messstationen wurden nach dem Bergsturz an verschiedenen Stellen platziert, um das Gelände zu überwachen und allfällige weitere Bewegungen frühzeitig erkennen zu können. Wie bereits erwähnt, haben sich die Blöcke gut verfestigt und zu weiteren Rutschungen ist es nicht gekommen. Daher wurden diese Messstationen irgenwann wieder abgebaut und konnten bei späteren Touren nicht mehr aufgefunden werden.

So. 25. August

Zurück im Tal der Abenteuer ist der sechste Tag angebrochen, ein Tag so sonnig und warm wie die vorherigen. Heute also soll es über den «Windy Pass» aus dem Tal hinaus gehen. Zu diesem Pass erfahren wir folgendes:

“Apparently there is only one pass, and that’s this one—the Windy Pass.” [said Jack] “Come on, let’s go. Packed a few tins, Dinah?”
“Yes,” said Dinah. “Now, where do we go from here? Up or down?”
“Up,” said Philip, poring over the map that Jack took from his pocket.
80

Eine aufschlussreiche Passage. Sie befinden sich also in einem Tal, welches nur über einen Pass verlassen werden kann, was bedeutet, dass sie nach oben gehen müssen. Das ist natürlich bei uns im Valle di Nibbio anders, schliesslich sind wir ja von unten – aus der Ebene – ins Tal eingestiegen. Und dennoch ist es einfach vorstellbar, warum das manchmal nicht möglich ist: Man denke nur an das Val Cornera, dessen Einmündung wir beim Wasserfall passiert haben: Kein Mensch kann von unten in dieses Tal hinaufsteigen, und daher müsste jeder, der auf irgend eine Weise in diesem Tal «landet», versuchen, es nach oben zu verlassen. Würde man nämlich dem Bach talwärts folgen, wäre der Weg spätestens an der Abbruchkante des Wasserfalls unweigerlich zu Ende. Vermutlich hat sich Enid Blyton genau eine solche Situation vorgestellt, weshalb von einem Weg nach unten, dem Bach entlang abwärts, gar nie die Rede ist.

Zoom Pass

Abb. 45: Zoom vom Grat des Mot Gianin (ca. 1100 m) zum hoch gelegenen Pass Bocchetta di Valfredda (1697 m). Auf einem vorgelagerten Felsrücken ist die Stütze der einstigen Seilbahn der Holzfäller zu erkennen, die über den Pass führte.
Eigene Aufnahme vom 18.05.2007

Was nun den Pass anbelangt – den einzigen, durch den das Tal verlassen werden kann – so stimmt dies im Valle di Nibbio aber durchaus: Wer dem Talgrund immer weiter bergauf folgt und den Trümmerhaufen des Bergsturzes überklettert, passiert später die Balm d’la Vègia, von der bereits die Rede war, und erreicht schliesslich nach mehreren Stunden und hunderten von Höhenmetern die Bocchetta di Valfredda, den 1697 m hohen Pass, der das Tal nach Norden hin abschliesst. Dieser Pass ist vom Talgrund aus nicht sichtbar, was aufgrund des steilen und unübersichtlichen Geländes auch nicht weiter verwunderlich ist. Auch Jack wusste, dass der Pass ohne die Karte nie zu finden wäre:

“I’ve got the map Otto drew. What a mercy he gave it to me! We’d never find the pass by ourselves without a map, I’m sure of that.” 81

Der Pass lässt sich aber beispielweise vom unteren Gipfel des Sasso Grande (818 m) gut erkennen, wenn man sich an den Rand des kleinen Plateaus begibt, wo es gegen das Valle di Nibbio abbricht. Im Kapitel «Der Felssturz» ist dies auf den Abbildungen 42 und 43 ersichtlich. Noch wesentlich eindrücklicher präsentiert sich der Pass denen, die dem Grat vom Sasso Grande aus nordwärts folgen. Vom Gipfelkreuz, dem 878 m hohen oberen Gipfel, sind in Kürze die Reste der Alpe Sostenna (892 m) erreicht, von wo sich auf weitgehend zerfallenem Pfad, mässig schwierig (T4-) mit einzelnen Kletterstellen, der Gipfel des Mot Gianin (1049 m) besteigen lässt. Noch ein Stück weiter, den Felsbastionen des Pizz d’la Vugia (IGM: P. Voggia, 1611 m) entgegen, weicht die Vegetation allmählich zurück und gibt den Blick auf den Pass im Hintergrund des Tales frei. Er präsentiert sich sehr auffällig und vermutlich hat sich Enid Blyton einen Pass dieser Art vorgestellt, denn die Beschreibung passt auf jeden Fall gut zu dieser Szenerie:

“You can see the pass, the Windy Pass, from here, though,” said Jack, pointing. “See where this mountain and the next almost touch? That’s where the pass must be—fairly hight up and awfully narrow. I bet we’ll have to go through it in single file.”
“No, we won’t,” said Philip scornfully. “It’s bound to be wide enough to take a cart. It only looks narrow because we’re far off.”
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Damit hat Philip natürlich recht – der Pass entpuppt sich als deutlich breiter, als es aus der Ferne den Anschein machte. Nur nützt ihnen diese Erkenntnis nicht viel, denn erst aus der Nähe stellen sie fest, dass er verschüttet ist – im Krieg bombardiert, um ihn unpassierbar zu machen. Das ist eine riesige Enttäuschung, denn nun wird ihnen erst recht bewusst, dass sie keine Möglichkeit mehr haben, das Tal zu verlassen. Traurig machen sie sich auf den langen Weg zurück zur Höhle.

Wer versuchen möchte, den Pass zu erreichen um festzustellen, ob er passierbar ist, kann dies auch vom Grat des Mot Gianin machen. Laut in-valgrande.it gibt es die Möglichkeit, ungefähr von der Stelle, wo das vorherige Bild entstand, zur Balm d’la Vègia abzusteigen, von wo dann dem zunehmend steiler werdendem Talgrund gefolgt werden muss, bis der Übergang erreicht ist. Die detaillierte Bildergalerie lässt auf herausforderndes Gelände und erhebliche Schwierigkeiten schliessen, bis die Balm erreicht ist. 83 Eigene Erfahrungen fehlen. Hingegen wird der weitere Weg dem Talgrund entlang als gut begehbar beschrieben 84; vermutlich ist dort die Vegetation weniger dicht als im unteren Teil des Tales. Ein älterer Bericht (2004) schildert den Pass als eingeebnet und gegen die Talflanken hin beidseitig mit Mauern gestützt. Darauf befinden sich die Fundamente der einstigen Seilbahn der Holzfäller. Auch biwakieren soll dort problemlos möglich sein, allerdings gibt es nirgends Wasser in der Nähe. 85

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