3 Die Suche nach dem Tal
3.1 Einleitung
Zur Lokalisierung des Tals liefert Enid Blyton gleich selbst Angaben, wenn auch nur sehr spärliche. Das Tal sei in Österreich, mehr ist nicht zu erfahren. Dies soll aber nicht als Kritik verstanden werden, denn es ist kennzeichnend für alle ihre Bücher, dass Verortungen immer sehr vage formuliert sind; der Nahbereich, in dem sich die Ereignisse abspielen, aber sehr detailliert geschildert wird. Damit soll der Leserschaft die Möglichkeit gegeben werden, sich die Örtlichkeit in der eigenen Phantasie auszumalen, ohne von konkreten Vorgaben allzusehr beeinflusst zu werden. Die Lokalisierung in Österreich ist daher nicht als zwingend zu verstehen. Die Produzenten der Fernsehserie von 1995, die Cloud 9 Screen Entertainment Group, verlegten beispielsweise die Handlung nach Deutschland, in die «Black Mountains», womit nichts anderes als der Schwarzwald gemeint ist. 10 Ich habe mich dagegen entschlossen, «mein» Tal der Abenteuer in einer Gegend zu suchen, die mir besser bekannt ist als die zuvor genannten. Im Norden Italiens, nahe der Schweizer Grenze, wo ich seit über zwei Jahrzehnten Touren unternehme, wurde ich fündig.
3.2 Der Zweite Weltkrieg in Ossola
In der Region des Valle d’Ossola und des Val Grande im oberen Piemont gibt es noch völlig unbewohnte Zonen, ohne jegliche Infrastruktur, was in den touristisch teilweise sehr stark genutzten Alpen inzwischen selten ist. Jedoch wurden auch diese schwer zugänglichen Täler einst von Menschen besiedelt und land- sowie forstwirtschaftlich genutzt, bis der Zweite Weltkrieg dem ein Ende machte. Zu den dramatischen Ereignissen, die sich nach dem Waffenstillstand zwischen dem italienischen Oberkommando und den Alliierten am 8. September 1943 abgespielt haben, findet sich im Buch Das Paradies auf Erden? folgende Zusammenfassung:
1943 besetzten die Nationalsozialisten den Norden Italiens. Daraufhin formierte sich eine Widerstandsbewegung, die sich aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammensetzte. Im Ossolatal waren die Partisanen besonders stark und die Widerstände am grössten […] Die Besatzer vermuteten, dass die Partisanen aufgrund der Unzugänglichkeit das Val Grande als ihren wichtigsten Rückzugsort nutzten und entschlossen sich im Jahre 1944 eine «Säuberung» vorzunehmen. Das sogenannte «Rastrellamento» (Durchkämmung) forderte unzählige Opfer. […] In Cicogna wurden 50 Häuser durch das Bombardement zerschossen. Über 200 Alphütten wurden zerstört, viele Weiden verwüstet. […] Der Zweite Weltkrieg und die Säuberungsaktionen führten zum endgültigen Verlassen der Almen. […] 11
Unter dem Titel «Val Grande martire» erläutert eine Informationstafel in Pogallo eine konkrete Situation, wie sie sich abgespielt hat. Nachstehend eine eigene deutsche Übersetzung. Es handelt sich um einen Auszug aus «Monte Marona», der Zeitung der 1. Ossola-Division «Mario Flaim»: 12
Am 13. Juni [1944] hat die Durchkämmung der «Valgrande» [Brigade «Valgrande Martire»] begonnen. Nach einigen Tagen gab Superti, der Kommandant meiner Formation war, das Kommando «Rette sich, wer kann»; wir erreichten den Pass Bocchetta di Campo, und von dort verteilten wir uns. Neun von uns suchten Zuflucht im Val di Pogallo. Hier sind wir vier Tage lang geblieben, ohne zu essen, um uns irgendwie vor dem Regen zu schützen. Acht von uns sind auf der Bocchetta geblieben. Am fünften Tag kam eine Nazi-Patrouille auf dem Pfad oberhalb des Tals vorbei, und ein Deutscher stieg hinunter, um den Fluss zu überqueren und entdeckte uns. Sie brachten uns nach Pogallo. Auf dem Weg dorthin fiel der Deutsche, der uns entdeckt hatte, in den Fluss und wir fischten ihn mit viel Mühe heraus.
In Pogallo gab uns ein deutscher Offizier zu essen und etwas zum Rauchen und versprach, uns am Leben zu lassen.
Am folgenden Tag, um 10 Uhr morgens, bereiteten sie das Erschiessungskommando vor; ich war der erste und sie zwangen mich, die Schuhe und das Hemd auszuziehen, und sechs mit «Ta-pum» bewaffnete Deutsche richteten ihre Gewehre schussbereit auf mich; aber ein Faschist, den ich kannte als er noch Bürger war, und mit dem ich sehr eng befreundet war, erkannte mich und warf sich auf mich und umarmte mich. So habe ich es geschafft, mein Leben zu retten. Während sie auf meine Kameraden schossen, kamen auch die anderen acht, die auf der Bocchetta waren, und sie wurden sofort erschossen. 13
Wer also in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg jene Gebiete aufgesucht hat, fand exakt das wieder, was Enid Blyton in «Valley of Adventure» beschreibt: Ausgebrannte Häuser und keine Menschenseele:
“Two burnt houses—and nobody to be found anywhere,” said Jack. “Very curious. […]”
“Quite burnt out,” said Dinah. “What an awful thing! What’s happened to the people who lived here? There must have been war here, or something. […]” 14

Abb. 4: Typische Szenerie wie sie vielerorts im oberen Piemont anzutreffen ist: Vollkommen mit Wald überwucherte Berge rund um die Dörfer im Talgrund. Blick aus dem Vallone del Crot nach Anzola d’Ossola.
Eigene Aufnahme vom 10.07.2009
3.3 Heutige Situation
Während in anderen kriegsversehrten Gegenden die Menschen nach und nach zurückkehrten, blieben die Täler von Ossola, wie auch andere auf der Alpensüdseite nach 1945 verlassen und die vormals genutzten Weideflächen wurden bald wieder von Gebüsch und Wald zurückerobert. Denn der Krieg hat hier nur in dramatischer Weise einen Prozess beschleunigt, der zuvor schon in die Gänge gekommen ist. Gerade kleine, besonders exponierte Ansiedlungen wurden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegeben; zu einer Zeit, als die Menschen vermehrt in den aufkommenden Industiebetrieben im Tal ihr Auskommen fanden. 15 Dies wird sich auch in der kartographischen Betrachtung im nächsten Kapitel zeigen. Durch diesen Prozess verschwand ebenso die einst erstellte Infrastruktur, wie Wege, Transportseilbahnen, Stützmauern oder Gebäude. Weite Teile präsentieren sich heute so, wie auf nebenstehendem Bild, wobei man sich vom einheitlichen Charakter der Bewaldung nicht täuschen lassen darf. Giuseppe Brenna, Autor mehrerer äusserst detaillierter Tourenführer des SAC (Schweizer Alpenclub) über die Tessiner Alpen, formuliert es so:
Die Blätter der Bäume verleihen dem Gelände ein gleichförmiges Aussehen und können dabei bedeutende Felsstufen verdecken. Was auf der Landkarte als regelmässiger, bewaldeter Hang eingezeichnet ist, kann in solchen Fällen in Wirklichkeit ein unglaubliches Durcheinander von Terrassen, Schluchten und Felsgürteln sein. 16
Ein Tal, auf das all dies zutrifft, ist das Valle di Nibbio, auch Val Faera genannt (gelegentlich auch fälschlicherweise Val Fredda) – mein Tal der Abenteuer! Es gehört heute grösstenteils zum Parco Nazionale Val Grande, dem 1992 gegründeten Nationalpark, dessen Perimeter seither mehrmals erweitert worden ist, zuletzt im Oktober 2023. Im Gegensatz etwa zum Schweizerischen Nationalpark darf man sich in diesem Gebiet frei bewegen, jedoch sind die Regeln, die innerhalb des Parkgebietes gelten, strikte zu befolgen. 17 Davon wird später noch die Rede sein.